Geschichtswerkstatt

„Ein besonders wichtiges belarussisch-deutsches Projekt ist die „Geschichtswerkstatt Minsk“, die auf dem Gelände des ehemaligen Ghettos in Minsk entstanden ist. Dort arbeiten Belarussen und Deutsche gemeinsam daran, durch das Erinnern an die Vergangenheit eine gute Zukunft zu schaffen.“

Bundespräsident a.D. Johannes Rau im April 2006

In Minsk befand sich eines der größten Ghettos im von den Nazis besetzten Gebiet der Sowjetunion. Hier und im nahegelegenen Todeslager Maly Trostenez wurden Hunderttausende Menschen getötet: Jüd*innen aus Minsk und Umgebung sowie aus Deutschland und Mitteleuropa. Sowjetische Kriegsgefangene, Insassen der Strafanstalten, Mitglieder des Untergrundes und Zivilist*innen nichtjüdischer Herkunft wurden ebenfalls in Trostenez getötet.

In der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik wurde die offizielle Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges im Diskurs des heroischen Kampfes des belarussischen Volkes und der Partisanen gegen die NS-Invasoren interpretiert. Der sowjetische Antisemitismus machte es unmöglich, öffentlich an die Verfolgung und Vernichtung der belarussischen Jüd*innen zu erinnern. Nur ein kleiner Obelisk auf dem Gebiet des ehemaligen Ghettos erinnerte an ihr Leiden und ihren Tod. Ehemalige Häftlinge errichteten diesen Obelisk 1946 auf dem Gelände der „Jama“ (dt.: die Grube), in der Tausende Jüd*innen starben.

In den 1990er Jahren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entstanden in Deutschland und in Belarus erste Initiativen, deren Ziel es war, die Öffentlichkeit an die Geschichte des Minsker Ghettos und an das Vernichtungslager Trostenez zu erinnern. Vertreter*innen der Städte, aus denen Jüd*innen deportiert worden waren, haben auf dem Gebiet des ehemaligen jüdischen Friedhofes in Minsk Gedenksteine zum Andenken an die getöteten Mitbürger*innen aufgestellt. Das Jama-Monument wurde von Leonid Levin, dem Architekten des Chatyn-Gedenkkomplexes, rekonstruiert und durch eine Figurenkomposition ergänzt. Mitglieder der Vereine ehemaliger Opfer des Nationalsozialismus sowie Historiker*innen und interessierte Besucher*innen beider Länder machten zunehmend auf die Notwendigkeit aufmerksam, mehr Informationen über die Geschichte des Minsker Ghettos und des Lagers Maly Trostenez zur Verfügung zu stellen.

Aus dieser Situation heraus beschlossen das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund, die Internationale Bildungs- und Begegnungsstätte „Johannes Rau“ in Minsk und der Verband Belarussischer jüdischer Vereine und Gemeinden eine Geschichtswerkstatt in einem der wenigen erhaltenen Gebäude des ehemaligen Ghettos zu gründen. Als ein Ort für Erinnerung, historische und politische Bildung und Forschung lädt die Geschichtswerkstatt seit 2003 alle ein, die sich ein Bild von der Geschichte des Minsker Ghettos, des Vernichtungslagers Trostenez und anderer Tatorte der Nationalsozialisten in Belarus machen möchten. Die Geschichtswerkstatt eröffnet allen Interessierten, Zeug*innen und Wissenschaftler*innen aus Belarus, Deutschland und anderen Ländern die Möglichkeit, einen gemeinsamen Dialog zu führen, ihre eigene Sicht der Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln zum Ausdruck zu bringen und Vorurteile zu bekämpfen. Dies ist nicht nur eine wichtige Voraussetzung für das gegenseitige Verständnis und die Versöhnung zwischen den Nationen, sondern auch ein weiterer Schritt zur Schaffung einer grenzübergreifenden historischen Kultur der Erinnerung an den Holocaust und an den Zweiten Weltkrieg in Europa.

Die Geschichtswerkstat „Leonid Lewin“ beschäftigt sich mit der Erforschung bisher unbekannter Themen aus der Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Insbesondere betrifft das die in Deutschland und Belarus wenig erforschten Ereignisse aus der Geschichte des Minsker Ghettos und des Vernichtungslagers Maly Trostenez. Die Geschichtswerkstatt veröffentlicht ihre eigenen Forschungsergebnisse, persönliche Erinnerungen der Zeug*innen und wissenschaftliche Sammelbände. Außerdem trägt die Geschichtswerkstatt Archivmaterial zusammen und organisiert Seminare, Konferenzen und wissenschaftliche Clubs. Forschungsprogramme befassen sich mit aktuellen Themen, die das Wissen von Lehrer*innen sowie von Museums- und Sozialarbeiter*innen über den Holocaust und die Erinnerungskultur an den Krieg erweitern. Der offene Dialog zwischen jungen Menschen, Pädagog*innen, Historiker*innen, Vertreter*innen verschiedener öffentlicher Vereine ehemaliger Ghetto – und KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter*innen aus Belarus, Deutschland, Ukraine, Polen und Russland findet hier statt.

Durchgeführte Schulungsseminare und der Historikerclub tragen mit Unterstützung qualifizierter Fachkräfte dazu bei, das berufliche Niveau von Lehrenden und Lektor*innen, Museums- und Archivfachkräften sowie Sozialarbeiter*innen zu erhöhen. Die Ergebnisse des interkulturellen sowie des generationsübergreifenden Dialogs werden im Bildungs- und Wissenschaftsbereich in Form von Büchern und Ausstellungen präsentiert, was durch die gemeinsame Arbeit mit deutschen Partnerorganisationen aus Dortmund, Berlin, Bonn, Bremen, Jena und anderen erleichtert wird.

In der Geschichtswerkstatt wird den Erinnerungen von Zeug*innen historischer Ereignisse viel Aufmerksamkeit gewidmet. Mit Hilfe von belarussischen und deutschen Freiwilligen werden für Zeug*innen der Kriegsereignisse eine Reihe von Interessenclubs, thematischen Veranstaltungen, Treffen, Präsentationen, Ausstellungen, Bildungsausflügen und Reisen mit dem Ziel der psychologischen Unterstützung und der Integration in das gesellschaftliche Leben organisiert.

Im Laufe ihrer 15-jährigen Geschichte ist die Geschichtswerkstatt zu einem bemerkenswerten Phänomen im kulturellen und wissenschaftlichen Leben von Belarus und seiner Hauptstadt Minsk geworden. Durch ein breites Aktivitätenspektrum trägt die Geschichtswerkstatt zur Entwicklung der Erinnerungskultur und der Bildungsangebote bei, indem regelmäßige Treffen zwischen der jungen Generation und Kriegszeug*innen, Historiker*innen, Studierenden und Schüler*innen organisiert werden. Dabei werden die wichtigsten Fragen in Form von Seminaren, runden Tischen und kreativen Treffen von Vertreter*innen verschiedener öffentlicher Verbände frei diskutiert. Neue Materialien und Exponate zur Geschichte des Holocaust, des Minsker Ghettos und des Todeslagers Trostenez, die von der Werkstatt gesammelt werden, ermöglichen es, die Zahl der weißen Flecken in der Geschichte von Belarus zu reduzieren.

Die Geschichtswerkstatt kann noch erfolgreicher arbeiten, wenn ihre Aktivitäten von noch mehr Menschen unterstützt werden. Deshalb wenden wir uns mit folgender Bitte an Sie:

– senden Sie uns (info.gwminsk@ibb.by) Informationen zu den Ihnen bekannten Opfern des Minsker Ghettos, des Lagers Trostenez sowie des Holocaust in Belarus; dieser Aufruf umfasst auch Informationen zu denjenigen, die während des Krieges aus Europa nach Belarus deportiert wurden;

– kommen Sie zu uns in die Geschichtswerkstatt! Sie sind herzlich eingeladen, an unseren thematischen Exkursionen und Veranstaltungen teilzunehmen.

Weitere Informationen zur Arbeit der Geschichtswerkstatt finden Sie auf der Website der Geschichtswerkstatt www.gwminsk.com/de.

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